Der Begriff des Kulturerbes wird ausgiebig verwendet, um auf bestimmte Aspekte der Vergangenheit und ihrer Kontinuität bis in die heutige Zeit hinzuweisen. Oftmals bezieht sich der Begriff auf historisch tradierte Praktiken & Hinterlassenschaften von sozialen Gruppen. Damit geht aber auch die Gefahr einher, eine einseitige Sicht auf Vergangenheit zu konstruieren, indem ungewollte Aspekte nicht anerkannt bzw. berücksichtigt werden. So geht der Blick in vergangene Zeiten immer mit Formen von Identitätskonstruktion einher, der vermeintliche Klarheit liefert, wer "wir" heute sind. Somit ist das Konzept des Kulturerbes auch sehr ambivalent, da es oft dazu dienen kann, "uns" von "ihnen" zu trennen. Insofern ist es wichtig, darüber nachzudenken, wie das Konzept verwendet wird. Was wird als "Kulturerbe" betrachtet, wie wird es als wichtig eingestuft, wem gehört es und wie wird es der nächsten Generation vermittelt - als ein Aspekt ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Der folgende Text behandelt wichtige Fragen wie
Der Begriff Erbe (engl. heritage) bezieht sich auf viele verschiedene Dinge, von Landschaften, die durch menschliche Praxis und Traditionen entstanden sind, bis hin zu Ressourcen, die in digitaler Form geschaffen wurden (z.B. digital heritage, UNESCO 2003). Die folgende Diskussion konzentriert sich auf das Kulturerbe und wie es im Kontext der Bildung verstanden werden kann. Obwohl sich Kulturerbe auf die Vergangenheit bezieht, umfasst es auch gegenwärtige Erfahrungen und zukünftige Projektionen. Eine anthropologische Perspektive auf das Kulturerbe befasst sich also damit, wie in der Gegenwart die Vergangenheit verhandelt wird. Die UNESCO-Definition des Kulturerbes umfasst sowohl materielle als auch immaterielle Kultur. Gebäude, Denkmäler und Archive gehören zum materiellen Kulturerbe. Das immaterielle Kulturerbe umfasst mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache, darstellende Künste, gesellschaftliche Bräuche, soziale Praktiken, Rituale und Feste, Wissen und Praktiken im Umgang mit der Natur und dem Universum sowie das Fachwissen über traditionelle Handwerkstechniken.
Sozialwissenschaftler*innen untersuchen den Umgang mit Kulturerbe, um zu verstehen, wie es (re)präsentiert wird und auch wie es durch Prozesse des "Erfindens von Traditionen" (Hobsbawm and Ranger 1983) erst konstruiert wird, ein Prozess, der dem Entstehungsprozess von Nationalstaaten zugrunde liegt. Kulturerbe ist also nie einfach "Vergangenheit", sondern immer eine bestimmte Projektion der Vergangenheit, die aus bestimmten, oft politischen Gründen ausgewählt wurde.
UNESCO-Konventionen haben zu Diskussionen über die Notwendigkeit beigetragen, alle Segmente des Kulturerbes zu erhalten. Die jüngste Konvention ist "Das Übereinkommen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes" (2003). Ziel dieser Konvention ist es, das Kulturerbe zu erhalten und das Bewusstsein für die Bedeutung sowohl des lokalen als auch des internationalen Erbes zu schärfen, die kulturelle Vielfalt und Kreativität zu schützen, die als eine Kraft des Dialogs und der kreativen Zusammenarbeit angesehen wird. Die Tatsache, dass sich Globalisierungsprozesse rasch auf das lokale und regionale Kulturerbe auswirken, hat zur Umsetzung der Konvention und zur Schaffung neuer Ansätze im Umgang mit dem Kulturerbe beigetragen. Die Konvention betont mehr als alles andere den lebendigen Aspekt des Kulturerbes um die Veränderlichkeit des Kulturerbes zu zeigen, die durch das Handeln von Menschen definiert wird. Die Vermittlung von Kulturerbe findet nicht trotz sondern durch sozialen Wandel statt. Die jüngste UNESCO-Strategie, die sich auf den Umgang mit lokalem und internationalem Kulturerbe auswirkt, wurde von verschiedenen Wissenschaftler*innen, darunter Kulturanthropolog*innen, kritisiert, weil sie dem Kulturerbe einen speziellen Rahmen vorgibt.
Anthropolog*innen diskutieren Kulturerbe unter anderem in Bezug auf Themen wie Mobilität, Tourismus und Familie. Sie verwenden multiperspektivische und multidisziplinäre Ansätze, um "Kulturerbe" in einem breiteren sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und historischen Kontext zu verstehen. Ihre Grundlage ist, dass die Bedeutungen, die dem Kulturerbe lokal gegeben werden, nicht einfach "da" sind, sondern von verschiedenen Individuen und Gruppen sozial und kulturell erschaffen werden.
Von der persönlichen, gruppenbezogenen bis hin zur nationalen Ebene ist Kulturerbe immer umstritten; es beinhaltet Reibungen, kann aber auch als Symbol für Gemeinschaft stehen. Die dänische Anthropologin Karen Fog Olwig (1999) argumentiert, dass der Prozess des Kulturerbes und die Gestaltung der Vergangenheit eine wichtige, sinnvolle und sogar notwendige Praxis der Gegenwart ist. Diese Perspektive schärft das Bewusstsein dafür, wie "die Vergangenheit" in der Gegenwart gemacht wird - und lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, wie viel von einem selektiven Blick in die Vergangenheit vergessen, ignoriert oder zerstört wird. Viele Strategien im Bereich des Kulturerbes, die von Organisationen wie UNESCO, ICOM und anderen umgesetzt werden, sind von lokalen oder nationalen Perspektiven und Diskursen geprägt und neigen daher dazu, einige Bevölkerungsgruppen einzubeziehen und andere auszuschließen. Strategien, die von diesen Organisationen ausgehen, haben ihren Ursprung in westeuropäischen Kontexten und neigen daher dazu, westliche Werte als universell zu fördern (Stublić 2019).
Jüngste Veröffentlichungen zum Kulturerbe konzentrieren sich auf Konflikte und Konkurrenz um das Kulturerbe (zum Beispiel Katic, Gregoric Bon und Eade 2017). Einzelpersonen und Gruppen schreiben dem Kulturerbe unterschiedliche Positionen und Werte zu; was für eine Person oder Gruppe ein akzeptables und unbestreitbares Kulturerbe ist, kann für andere sehr umstritten und belastend sein. Ashworth und Tunbrige (1997) führen den Begriff des "dissonanten Kulturerbes" ein, um zu erörtern, wie verschiedene Gemeinschaften danach streben, ihr Kulturerbe und damit sich selbst zu definieren, Aspekte zu verleugnen, zu vergessen oder neu zu erfinden, je nach den gegenwärtigen Einstellungen und Werten. Nachfolgende Generationen können dasselbe tun. Huse (1997) schreibt von unerwünschtem oder schwierigem Kulturerbe, während Macdonald (2015) die zeitliche Besonderheit des Kulturerbes diskutiert. Hier diskutiert sie, wie lange es dauert, bis ein schwieriges Kulturerbe zu etwas anderem wird oder bis ein Aspekt des Kulturerbes als schwieriges Erbe in Frage gestellt wird.
Aus pädagogischer Sicht können die Fragen der Diversität des Kulturerbes auf einer ganz anderen Ebene in den Mittelpunkt rücken. Die Frage, welches Kulturerbe "richtiger" ist, oder wessen Kultur, Sprache, Bräuche oder Religion "dissonant" oder "schwierig" ist, könnte auch ein Thema im Klassenzimmer sein. Das Erbe und die Kultur verändern sich, und die Lehrer*innen und Schüler*innen müssen sich der sich dynamischen Natur des Kulturerbes stärker bewusst sein. Wenn nur ein eindimensionales Kulturerbe gelehrt wird, ohne Rücksicht auf alternative Sichtweisen zu nehmen, oder wenn andere Gruppen nicht angemessen oder ausreichend repräsentiert werden, könnte man sich selbst nicht vollständig akzeptiert oder als ausgeschlossen finden. Gleichzeitig müssen wir uns vor Augen halten, dass "die Einbeziehung eines bestimmten Kulturerbes in die formale Schulbildung dazu neigt, Macht und Unterscheidung zu legitimieren sowie diejenigen auszuschließen, die keinen direkten Zugang dazu haben" (Okubo 2010: 113, eigene Übersetzung).
Die Synergie zwischen Bildung und Kulturerbe ist in den letzten fünf Jahren im Kontext der Europäischen Union viel diskutiert worden. Kulturerbe ist eine Ressource, die zunehmend für Bildungszwecke "genutzt" wird. Offiziellen Dokumenten zufolge, die vom EU-Rat veröffentlicht wurden, "muss Bildung eine Schlüsselrolle beim Schutz des immateriellen Kulturerbes für künftige Generationen spielen" (Kostović-Vranješ 2015:448). Mit der Feststellung, dass es nie zu früh oder zu spät ist, den Schutz umzusetzen, wurde das Jahr 2018 zum Jahr des europäischen Kulturerbes erklärt.
Liest man Schullehrpläne und andere Literatur, die sich mit Kulturerbe und Bildung befasst, findet man mehrere Programme, die bereits in europäischen Schulen durchgeführt werden. Diese Projekte befassen sich hauptsächlich mit der Bewahrung von Bräuchen und Kunsthandwerk sowie mit der Wiederbelebung traditioneller Lieder, Spiele, Tänze usw. Solche Projekte, die oft Kinder außerhalb der Schule einbeziehen, beinhalten die Vermittlung der Geschichte bestimmter Bräuche und die Durchführung praktischer Workshops, in denen die Schüler*innen sich in verschiedenen kreativen Aktivitäten versuchen. Auf diese Weise lernen die Schüler*innen das Kulturerbe ihrer Gegend oder der weiteren Region kennen und machen sich mit dem Kulturerbe ihrer Mitschüler*innen vertraut. Diese Projekte lehren Kulturerbe durch erfahrungsorientiertes Lernen, wobei die Schüler*innen selbständig oder in Gruppen unter Anleitung des Lehrenden arbeiten. Auf dem Kulturerbe basierende Lehrprojekte zielen darauf ab, die Schüler*innen mit der Geschichte ihrer Region und dem Status des lokalen Kulturerbes in Prozessen sozialen Wandels vertraut zu machen. Oft ist es auch das Ziel dieser Projekte, potenziell verwertbare Fertigkeiten zu entwickeln, zum Beispiel in der Herstellung von traditionellen Textilien oder in der Kunsttischlerei. Auf internationaler Ebene findet auch eine bewusste Ausweitung statt. Zum Beispiel gibt es ein UNESCO-Projekt, welches die Vermittlung von Kulturerbe in Krisengebieten bewusst nutzt, um Dialoge und Kooperation zwischen verschiedenen Gruppen zu unterstützen.
Im europäischen Kontext begann das Pilotprojekt "Learning with a Living Heritage in European Schools" mit dem Ziel, das immaterielle Kulturerbe in die Lehrpläne zu integrieren, d.h. zu ermöglichen, dass die Schüler*innen aus der direkten Erfahrung lernen. Ein weiteres Programm "Schools Adopt a Monument" wurde mit Blick auf Kinder entwickelt, um ihnen einen anderen Zugang zu den Denkmälern in der Nähe ihrer Schule oder in der Nachbarschaft zu ermöglichen. Während des Projekts sammelten die Schüler*innen mit Hilfe der Lehrer*innen Material über die Denkmäler und nutzten das Gespräch mit den lokalen Ansässigen, um ihre Kenntnisse über das jeweilige Denkmal sowie das Kulturerbe ihres eigenen Ortes zu erweitern. Die Denkmäler wurden von den Schüler*innen zusätzlich gepflegt, gereinigt und unterhalten.
Für die Zwecke der Ergebnisse des IO1-Projekts haben wir eine Reihe von Projekten zum Kulturerbe in Museen oder anderen Kultureinrichtungen (in Slowenien und Kroatien) gesammelt, die sich sowohl an die Schüler*innen als auch an die Lehrer*innen richten. Ein Beispiel ist das Kindermuseum - Herman's Den, das eine Reihe kreativer Aktivitäten beherbergt, mit dem Ziel, das Interesse der Schüler*innen für das lokale Kulturerbe zu wecken, d.h. sie für die Notwendigkeit der Erhaltung und des Schutzes ihres Kulturerbes zu sensibilisieren. Ein weiteres Projekt, das vom Slowenischen Schulmuseum organisiert wird, ist das Projekt, das sich auf sein einzigartiges Programm namens "alte Schule" konzentriert. Die Kurator*innen des Museums führen die Schüler*innen in das tägliche Leben ihrer Großeltern ein, wobei der Schwerpunkt auf Formen von Erziehung Anfang des 20. Jahrhunderts liegt. Mit diesem Ansatz erhalten Kinder und andere Besucher*innen einen Einblick in ihr lokales Kulturerbe sowie in ihre persönlichen Familiengeschichten.
Kulturerbe, dissonantes, schwieriges und unerwünschtes Kulturerbe, UNESCO, Vergangenheit & Gegenwart, Reflexivität, Othering
Fog Olwig K. (1999). The Burden of Heritage: Claiming a Place for a West Indian Culture. American Ethnologist, 26(2).(370-388).
Chambers, E. (2005). Whose heritage is it? History, culture and inheritance. Anthropology News. (7–8).
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Hobsbawm, E., Ranger T. (1983). The Invention of Tradition. Cambridge. Cambridge University Press.
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Okubo, Y. (2010). HERITAGE: OWNED OR ASSIGNED? The Cultural Politics of Teaching Heritage Language in Osaka, Japan. Critical Asian Studies 42(1). 111-138.
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Danijela Birt Katić, Jelena Kupsjak (Kroatien)
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